Sehr geehrter Herr Dr. Markus Söder,
Wir schreiben Ihnen in Anbetracht des derzeit laufenden Landtagswahlkampfes. Lassen Sie uns zu
Beginn dieses Briefes deswegen an Ihre Kritikfähigkeit und Reflexionsgabe appellieren. Die
mitunterzeichnenden Vereine und Personen dieses Briefes machen sich Sorgen über Ihren verrohenden
und zunehmend populistischen Politikstil sowie den Ihres Koalitionspartners. Diese Kritik bezieht sich
nicht auf Ihre politischen Inhalte oder Positionen, sondern auf Ihre Vortragsart und Rhetorik.
Bezeichnungen des politischen Gegners als „Miesmachpartei“, „Zwangspartei“, „Verbotspartei“ oder
dergleichen und die Verknüpfung dessen mit einem Narrativ von einer dem Volk entgegenstehenden
Elite, welche „[d]ie grüne Philosophie, die der ideologisch dominante Teil der Regierung ist“ (04.07.23,
Talkschau Maischberger) dem kleinen Bürger gegenüberstellt, betrachten wir als kritisch und
brandgefährlich. Dieses Propagieren einer allumfassenden und bedrohlichen Elite ist ein Populismus
qua Definition: „Zur Elite gehört nicht nur das Parteienestablishment, sondern auch die kulturelle Elite,
die den hegemonialen Diskurs steuert und verbreitet.“ Mit dieser Agitation gegen den politischen
Gegner ignorieren Sie die zweitstärkste Partei in Bayern und damit auch deren Wähler:innen.
Davon abgesehen entbehrt es jeder Grundlage, über die Berliner Eliten zu wettern, wenn man
gleichzeitig Teil davon ist und eine solch geringe parlamentarische Präsenz wie Sie innerhalb des
Landtags aufweist, wo Sie sich doch hier für die von Ihnen angeprangerten Punkte demokratisch
einsetzen könnten – anwesend waren Sie an 5 von 31 Sitzungstagen.
Die AfD haben Sie stets verurteilt und deren Positionen immer abgelehnt. Und doch rücken Ihre
Narrative in denselben Politikstil, teils gleicht sich sogar der Inhalt. Vor allem bei Ihrem Umgang mit
der Partei Bündnis 90/Die Grünen und den von Ihnen so genannten „Widerstand“ gegen die Berliner- oder Grünen-„Wokeness“ unterscheidet Sie oft nicht mehr viel von den Rechtsradikalen: Sowohl Sie
als auch die AfD spielen mit einem konstruierten Grüne-Eliten-Feindbild, welche die „normalen“
Bürger:innen gängeln, umerziehen und zum Verzicht zwingen wollen.
Wenn Sie von „Zwangsveganismus“, „Zwangsgendern“, „Asyltourismus“ oder „Zwangsstaat“
sprechen, besteht deswegen eine Verwechslungsgefahr zu Reden prominenter AfD-Politiker:innen.
Diese Superlative befeuern den bipolaren Gesellschaftskampf, sogar bei Selbstbestimmungsthemen wie
Ernährung, um nur ein Thema zu nennen, und spalten die Gesellschaft genauso wie AfD-Politik. Nur
Ihr Wirtschaftsminister kann diese Rhetorik noch toppen, wenn er gar von einem Punkt spricht, „wo
endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss.“
Diese Aussage fiel auf einer Demonstration unter dem Titel „Anti-Heizungsideologie“, auf der Sie
ebenfalls als Hauptredner auftraten. Allein Ihre Teilnahme an diesem Aufmarsch in Erding – von Ihrem
ehemals antisemitischen Stellvertreter einmal abgesehen – lässt die Grenzen zwischen der radikalen
AfD und der eigentlich bürgerlichen CSU stark verschwimmen, von den Freien Wählern einmal
abgesehen.
Ihr zögerliches Handeln in Bezug auf die verfassungsfeindlichen Gesinnungen Ihres Koalitionspartners
und deren Aufklärung trägt ebenfalls nicht zur Besserung bei. Die Gefahr des von Ihnen und Herrn
Aiwanger praktizierten Politikstils für unsere Demokratie und ihre Institutionen – auch nach dem Sturm
auf das Kapitol in den USA in Folge des Politikstils Donald Trumps – sollten für einen amtierenden
Ministerpräsidenten eigentlich klar sein.
Abseits Ihres Auftretens im derzeit laufenden Wahlkampf sehen wir jedoch auch viele Ihrer politischen
Entscheidungen kritisch im Lichte der Demokratietheorie. Die Kompetenzverschiebung des
Tierschutzes in das Landwirtschaftsministerium betrachten wir als eine Unterhöhlung des Tierschutzes.
Der Interessenskonflikt zwischen hohen Standards im Tierschutz und einer wirtschaftlichen
Landwirtschaftsindustrie ist offensichtlich, beides sollte deswegen nicht unter dem gleichen Dach
verhandelt werden.
Ein weiterer Punkt betrifft die präventive Verhaftung von politischen Aktivist:innen auf Grundlage eines
Gesetzes, welches ursprünglich zur Verfolgung von islamistischem Terror verabschiedet wurde. Dieses
Gesetz, von dem die Strafverfolgungsbehörden im Freistaat exzessiv Gebrauch machen, auf nicht
gewalttätige politische Aktivist:innen anzuwenden, lehnen wir ab. Abseits dessen heizt die Bezeichnung
eines nicht-gewalttätig agierenden Vereins von jungen Menschen als „Klima-RAF“ die Stimmung an
und regt Bürger:innen darüber hinaus zu gewalttätigen Reaktionen auf diese Proteste an.
Als Verein, welcher sich für ein offenes und freies Europa einsetzt, sehen wir darüber hinaus Ihre
Aussagen bezüglich der EU und einer Beschneidung des Schengenraums als kritisch. Von einer
„Auszeit“ Deutschlands vom Schengen-Abkommen (2014 von Ihnen so vorgetragen) und die derzeit
laufenden von Bayern unilateral eingeführten Grenzkontrollen wecken dann doch Zweifel an Ihrer proeuropäischen Haltung. Aussagen, die die Legitimität des EUGH im Rahmen der gescheiterten und wenig durchdachten Pkw-Maut anzweifeln, spielen ebenso in diesen Zweifel.
Der Wankelmut Ihrer politischen Gesinnung sieht selbst ein Teil Ihrer Schwesterpartei: „Bei
Markus Söder eine Prognose abzugeben, was er heute in einem Jahr inhaltlich vertreten wird, ist nicht
einfach“ (CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke).
Wir als gemeinnützig engagierte Menschen appellieren daher an Sie, Ihren Politikstil zu überdenken
und damit weiter einen offenen Diskurs zwischen verschiedenen politischen Lagern zu ermöglichen. Es
geht in letzter Instanz darum, die Vitalität unserer Demokratie zu erhalten.
Ein weiteres Mal mit Blick auf die jüngsten Recherchen in den Medien über den Wirtschaftsminister
Hubert Aiwanger, die dessen offen praktizierten Antisemitismus während seiner Jugend aufgedeckt
haben, möchten wir betonen: Derartiger Antisemitismus ist keine Bagatelle, sondern eigentlich
strafrechtlich relevant und abgesehen davon moralisch wie persönlich disqualifizierend. So jemand ist
für uns in der bayerischen Staatsregierung nicht mehr tragbar, für Sie sollte er das auch nicht sein.
Deswegen fordern auch wir: Entlassen Sie Hubert Aiwanger und zügeln Sie Ihren eigenen Populismus.
Hinweis: Der Verein Junges Europa e.V. sammelt Unterschriften unter diesem Brief, um ihn dem bayerischen Ministerpräsidenten mit möglichst viel Unterstützung zeitnah zukommen zu lassen.
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